Wie wir wurden
Zur Geschichte der Gemeinde Balhorn von Walter Löber, Januar 2005 Christlicher Glaube und christliches Leben, sie waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schon vorher in Balhorn wie vielerorts nur im Verborgenen und nur bei einem Teil der Gemeindeglieder zu finden, denn in der Kirche und unter der Geistlichkeit herrschten zu jener Zeit weithin Vernunftglaube und geistige Trägheit. In Balhorn trugen zu dieser Entwicklung drei nacheinander von 1780 bis 1852 amtierende Pfarrer wesentlich bei. So kam es, dass 1852 der Balhorner Bürgermeister eine Bittschrift mit 19 Unterschriften aus Balhorn und dreien aus Altenstädt an das Konsistorium (Kirchenleitung) richtete, in der zunächst "die traurige Lage", in der sich das Kirchspiel seit Jahrzehnten befand, ausführlich geschildert wurde. Es wurde dann der Erwartung Ausdruck gegeben, dass "der Herr uns durch Hochehrwürdiges Consistorium einen Hirten senden wird, welcher uns die reine Lehre unserer Kirche predigt".
Am 3. Okt. 1852 trat Pfr. Schmidtmann sein Amt an und hatte bald Liebe und Wertschätzung erworben, starb aber 47jährig schon am 11. Febr. 1853. So kam dann der Mann nach Balhorn, der das geistliche Leben und die kirchliche Entwicklung des Ortes entscheidend und nachhaltig beeinflusst hat: Ludwig Saul, von 1853 bis zu seinem Tode 1877 Pfarrer in Balhorn. Er bemühte sich zunächst vor allem, diejenigen Gemeindeglieder wieder zum Glauben zu bringen, die sich in der langen Zeit der Lauheit und Gleichgültigkeit von Gottes Wort und christlichem Leben entfernt hatten. Er konnte dann zwei Jahrzehnte lang segensreich wirken und Balhorn wieder zu einer lebendigen christlichen Gemeinde werden lassen.
Er predigte, lehrte und verwaltete die Sakramente nach Gottes Wort und Luthers Lehre, welche in der kurhessischen Kirche Glaubensgrundlage waren, was auch in der zu Pfarrer Sauls Zeit noch gültigen Kirchenordnung von 1657 festgeschrieben war. Zur Bekräftigung dessen verfassten 96 kurhessische Pfarrer, darunter Pfr. Saul, Ende 1867 eine "Deklaration über den Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche".
Kurhessen wurde bekanntermaßen 1866 von Preußen annektiert. Von preußischer Seite wurde dann im kirchlichen Bereich auf Einführung der preußischen Union in Hessen gedrängt, jener seit 1817 in Preußen bestehenden, vom damaligen König angeordneten Vereinigung von lutherischer und reformierter Kirche, in der beide Bekenntnisse nebeneinander gelten. Der Widerstand war heftig, und es würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen, wollte man hier alles anführen, was in den Jahren bis 1873 an Anordnungen, Erlassen, Protesten, Eingaben u.ä. auf den Weg gebracht wurde. Schließlich setzte sich doch die "Obrigkeit" durch. Am 24. April 1873 erschien ein "Allerhöchster Erlaß", der besagte, dass am 28. Juli "das Königliche Consistorium für den Regierungsbezirk Cassel dahier in Wirksamkeit tritt". Noch vor dem 28. Juli wurde von 43 niederhessischen Pfarrern, darunter Pfr. Saul, bei König, Kultusminister und (altem) Konsistorium protestiert. Sie würden sich gezwungen sehen, schrieben sie, dem Gesamtkonsistorium "die Anerkennung und Unterstellung zu versagen". Ähnlich lautende Eingaben kamen aber auch von Gemeindegliedern, u.a. eine von Balhorn mit 138 Unterschriften.
Die protestierenden Pfarrer wurden nach und nach bis Ende Februar 1874 ihrer Ämter enthoben, Pfr. Saul am 26. Januar 1874. Ein Vikar wurde als Pfarrverweser nach Balhorn gebracht und hielt am 8. Februar seinen ersten Gottesdienst in der Balhorner Kirche. Am gleichen Tag hielt Pfr. Saul im Pfarrhaus den ersten Gottesdienst für "die Renitenten". Die Gottesdienste durften dann aber nicht mehr im Pfarrhaus gehalten werden und fanden mehrere Monate lang in einem Bauernhaus statt. Pfr. Saul wurde dann am 2. Mai 1874 endgültig abgesetzt und musste das Pfarrhaus verlassen. Er fand mit seiner Familie Aufnahme im Haus eines ledigen Landwirts, das dann für 100 Jahre zum Pfarrhaus der Gemeinde werden sollte. Für die Gottesdienste wurde im Sommer 1874 am Standort der heutigen Kirche eine "Notkirche" in Lehmfachwerk-Bauweise errichtet.
Pfr. Saul erkannte, wie alle gleich ihm des Amtes enthobenen Pfarrer, seine Absetzung wegen "Unzuständigkeit der Behörde" nicht an. Er sah sich an sein Ordinationsgelübde gebunden und weiterhin zur Amtsausübung verpflichtet. Er wurde deshalb immer wieder vor Gericht zitiert und zu Geldstrafen verurteilt sowie mit Gefängnis bedroht. Er starb 1877. Die gegen ihn und seine Nachfolger und auch gegen Gemeindeglieder verhängten Sanktionen wurden mit der Zeit geringer, völlige Freiheit in der Religionsausübung gab es aber erst nach dem Ende der Monarchie 1918.
Die "Renitente Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession", wie sie sich später nannte und damit ihre bekenntnismäßige Stellung dokumentierte, pflegte schon bald Kirchengemeinschaft mit anderen lutherischen Freikirchen in Deutschland und vollzog 1950 den Anschluss an die "Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche", die 1947 aus der Vereinigung mehrerer Kirchen entstanden war. 1972 kam es dann unter dem gleichen Namen zum Zusammenschluss aller lutherischen Freikirchen in der damaligen Bundesrepublik. Nach 1990 kamen dann die freikirchlichen Lutheraner in der ehemaligen DDR z.T. hinzu.
Die Heidenmission war seit Pfr. Sauls Zeiten den Balhornern ein wichtiges Anliegen. Sie wollten dann auch gern ein Missionsfest haben. So fand 1858 in Balhorn das erste Missionsfest "auf dem Pfarrgarten" statt, wo heute die Häuser Fritzlarer Str. 31-37 stehen. Diesem ersten Fest sollten noch viele folgen. War es zunächst die Hermannsburger Mission, mit der man zusammenarbeitete, so war es später und ist es noch heute die 1892 in Bleckmar (Kreis Celle) gegründete und dort noch ansässige, früher unter anderem Namen bekannte, "Lutherische Kirchenmission". Das Missionsfeld ist traditionell das südliche Afrika, wo lutherische Missionare dienen. Missionsfeste, wo "auf Heimaturlaub" befindliche Missionare predigen und von ihrer Arbeit berichten, fördern das Zusammengehörigkeitsgefühl von Heimatkirche und Missionsgemeinden. Etwas Besonderes war es, als 1957 auf einem Missionsfest in Sand erstmalig ein Schwarzafrikaner aus Südafrika zur Festgemeinde sprach, was seitdem noch einige Male geschah.
Neben der Heidenmission sollte die Judenmission für Balhorn noch eine besondere Bedeutung erlangen. Durch verschiedene Umstände kam es zu dieser Entwicklung. Die schon erwähnte Liebe der Balhorner zur (Heiden-)Mission weckte den Wunsch nach einer eigenen Missionsanstalt in Balhorn. Es gab auch schon drei junge Männer (nicht aus Balhorn), die sich hier gern zum Missionar ausbilden lassen wollten und auch, neben Pfr. Saul, Pfarrer und Lehrer aus der Umgebung, die den Unterricht nebenamtlich übernehmen wollten. Es regte sich aber mancherlei Widerstand, hauptsächlich von außen. Ein Argument gegen eine eigene Ausbildungsstätte war der Zweifel an der Notwendigkeit wegen ausreichend vorhandener anderer Anstalten (Hermannsburg, Leipzig u.a.).
So keimte denn der Gedanke an eine Missionsarbeit unter den Juden, zumal Pfr. Saul schon vor seiner Balhorner Zeit Mitglied im "Evangelischen Verein von Freunden Israels in Kurhessen" war. Der Gedanke wurde schon bald in die Tat umgesetzt. Zwei junge Männer, davon einer, der sich schon für die Heidenmission ausbilden lassen wollte (s.o.), der andere ein Heinrich Bernhardt aus Balhorn, wurden hier ab 1861 für die Judenmission zugerüstet. Sie waren bereits 27 bzw. 25 Jahre alt und hatten natürlich schon andere Berufe ausgeübt. Sie sollten die einzigen bleiben, die in Balhorn zu missionarischem Dienst vorbereitet wurden. Die Ereignisse nach 1866 brachten es mit sich, dass an eine Missionarsausbildung nicht mehr gedacht werden konnte. Die Judenmission wurde aber in Balhorn nicht vergessen und fand später besondere Förderung und Unterstützung durch das Engagement der Pfarrer Siebert und Rathje.
Zum Entstehen eines Posaunenchores kam es, nachdem Pfr. Saul 1862 in Ebsdorf vom dortigen, am Missionsfest mitwirkenden Posaunenchor sehr angetan war und ihn zum nächsten Missionsfest nach Balhorn einlud. Dieser Dienst des Ebsdorfer Chores in Balhorn 1863 verstärkte den Wunsch nach einem eigenen Posaunenchor, der dann im Winter 63/64 gegründet wurde, sich im Herbst ´64 der Gemeinde vorstellte und die Weihnachtsgottesdienste ´64 mitgestalten konnte. 1874 gingen dann sämtliche Bläser mit in die Renitenz, mussten aber zunächst wegen mancherlei Widrigkeiten ihren Dienst einstellen, den sie erst 1889 mit zum großen Teil neuen Bläsern wieder aufnahmen. Seitdem besteht der Posaunenchor ununterbrochen, nur in den beiden Weltkriegen war er wegen des Kriegsdienstes der jungen Männer nicht einsatzfähig. Chorgesang gibt es in der Gemeinde seit 1912, dem Gründungsjahr des heute noch bestehenden Kirchenchores. Neben diesem gemischten Chor bestand von 1927-1960 ein Männerchor.
Die Übungsstunden des Kirchenchores fanden in der Kirche, die der anderen Chöre hauptsächlich in den Häusern der Mitglieder statt. Ein erster ständiger Übungsraum für alle Chöre, ein "Zimmer mit Übergröße", entstand 1949 im Zuge der Renovierung des alten Pfarrhauses. Dieses "Gemeindezimmer" wurde dann auch von Frauenkreis und Jugendkreis sowie für Konfirmanden- und Kinderunterricht genutzt. Ab 1957 stand dann wesentlich mehr Raum zur Verfügung, denn nach Abriss der Scheune am Pfarrhaus war an diesem ein Anbau mit Saal und Garagen errichtet worden. Nun waren mancherlei Zusammenkünfte möglich, auch viele übergemeindliche Treffen wie Konvente, Synoden, Freizeiten u.a. fanden in Balhorn statt. Dieser Saal wurde bis 1984 genutzt, dem Jahr der Ingebrauchnahme des neuen Gemeindehauses auf dem durch Erwerb mehrerer Nachbargrundstücke beträchtlich vergrößerten Kirchgelände, auf dem schon das 1974 bezogene Pfarrhaus errichtet worden war.
Erwähnt seien hier auch die kirchenmusikalischen Veranstaltungen verschiedenster Art, die in der 1921 erbauten Kirche stattfanden. Ausführende waren meistens die Balhorner Chöre, allein oder gemeinsam mit Chören benachbarter oder auch anderer SELK-Gemeinden. Etwas Besonderes waren die Konzerte ausländischer Gruppen. So kam der A-Capella-Chor aus Seward (Nebraska, USA) erstmalig 1985 und dann noch einige Male jeweils im Rahmen einer Deutschland-Tournee nach Balhorn, und ein russisches Vokalensemble brachte mehrmals in den vergangenen Jahren Gesänge aus russischen Kirchen und Klöstern zu Gehör.
War in den ersten Jahrzehnten nach 1874 das Zusammenleben im Dorf mehr oder weniger beeinträchtigt, so kam es später doch immer mehr zu einem friedlichen Miteinander. Die beiden Kirchengemeinden und ihre Pfarrer haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu verschiedenen Anlässen gemeinsame Gottesdienste gefeiert und zusammen sonstige Feiern mitgestaltet. Kirche in Balhorn: Vogelsberg 7-9 34308 Bad Emstal - Balhorn |